// von Erwin Grosche //
Es passierte selten, dass er beim Gähnen die Kontrolle über sich verlor. Dass er also dem Gähnreiz nachgab und sich dieser Vorgang so verselbstständigte, dass er zulassen musste, dass es ihn auseinanderriss. Aus dem Gähnen entsprang dann sogar noch ein weiteres Gähnen, dass wirklich von einem Zustand zeugte, der tief erschöpft war und sein Vergessen anprangerte. Er wurde dabei nicht laut, obwohl er schreien wollte, denn dies war genau der Moment, wo man der Welt sein entstelltes Antlitz präsentierte. Das war man nicht mehr selbst. Da hatte jemand die Macht über einen an sich gerissen. Der Gähngott war da. Man wusste doch selbst nicht, wie weit man sich öffnen konnte. Man wusste doch selbst nicht, dass das Gesicht zu solchen Entgleisungen in der Lage war. Augenaufreißen kannte man, auch das Strecken aller Gliedmaßen bis was knackte, war bekannt, aber hier meldete sich eine Widerstandsgruppe zu Wort, die am liebsten noch im Reich der Träume unterwegs gewesen wäre. Die am liebsten noch ein eigenes Leben führen wollten, fern ab von jeder Einflussnahme. Das war ein Protest, eine Besetzung der Mundhöhle, eine Geiselnahme mit Forderungen. „Wir wollen Euch zeigen wie es ist, wenn man uns nicht schlafen lässt. Wir gefährden dann die öffentliche Ordnung.“ Gähnen soll ansteckend sein. Warum nicht das Lieben, warum nicht das Glücklich sein? Im Grunde brachte hier jeder normale Benimmführer die Hand ins Spiel, doch was haben wir gelacht, wenn wir bei diesen kleinen Gähnanfällen, diesen Gähnseufzern den Mund abdecken sollten. Aber dies sollte uns nur vorbereiten auf das Große und Ganze. Dies sollte uns nur zeigen wie es geht, wenn man die anderen vor sich schützen muss. So wie wir einen Schirm mitführen, weil wir den Regen erahnen, sollten wir immer die Hand in Bereitschaft halten, um der Öffentlichkeit dieses verzerrte Bild von uns zu ersparen, wenn das große Gähnen uns entstellt. Manche können gar nicht damit umgehen uns so zu sehen. Der Schrei von Munch entstand aus diesem Gähnen. Wer so gähnen kann, wer sich so wenig im Griff hat, der vergisst auch am Montag seinen Mülleimer auf den Bürgersteig zu stellen und vergibt auf amazon nur einen Stern für ein Buch von Peter Handke, obwohl er es gar nicht gelesen hat. Gähnen soll ansteckend sein. Warum nicht das Lieben, warum nicht das glücklich sein? Weil Gott unersetzlich bleiben will.
(Spielen auf Kinderklavier D-Moll/ G-Moll7 C-DUR/ D-Moll/ F/D/DG/ D/D. Mit Falsett-Stimme singen. Das Gähnen zwischen den Zeilen einbauen.)
Der Autor, Schauspieler, Kabarettist und – nicht zu vergessen ! – Paderborner Erwin Grosche, in jedem seiner Fächer ein herz- und kopferreichender Meister, veröffentlicht im Verlag Akademie der Abenteuer als nächtes Buch den Gedichtband „Das ist nicht so, das ist ganz anders“. Die umwerfenden farbigen Holzschnitte dazu stammen von Hans Christian Rüngeler. Inzwischen arbeitet Erwin Grosche an „Grosches Weltlexikon Zwo“ – es wird im Frühjahr 2023 im Verlag Akademie-der-Abenteuer erscheinen.
Der Verlag Akademie der Abenteuer wurde Ende 2020 gegründet, um in diesem Kinderbücher neu aufzulegen und Bücher in die Welt zu bringen, die es sonst vielleicht nicht gegeben hätte. Seitdem sind über 50 Bücher von mehr als 20 Autorinnen und Autoren aus vielen Teilen der Welt erschienen – und die Reise geht weiter. Alle Bücher des Verlags lassen sich finden im Überblick.