von Maria Giovanna Tassinari
Vor einigen Tagen gab mir mein Mann eine Einführung zu Spiderman. Die Geschichten erzählt Sam Raimi in seiner Trilogie. Gegen jede Erwartung war ich begeistert: Dieser bescheidene, scheue Junge, der plötzlich mit übernatürlichen Fähigkeiten beschenkt wird und gegen seinen Willen zu einem Helden wird. Begeistert hat mich der Gegensatz zwischen seinem unauffälligen Dasein als Junge und seiner Ausstrahlung als Spiderman. Begeistert haben mich die graziösen / anmutigen und agilen Bewegungen, so wie er auf einem schiefen, hohen Dach steht, sprungbereit, mit dem rechten Bein in der Hocke, das linke seitwärts gestreckt, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die rechte Hand unter dem Kinn. Ich wurde gleich reingerissen wie MJ – meine Namesvetterin – die junge Frau, das Mädchen, das Peter Parker liebt und das, man vermutet es – eher in Spiderman verliebt ist. Wie ich, als ich am zweiten Abend, auf die Frage meines Mannes, ob wir uns den zweiten Film schauen wollten, verloren zwischen den Welten und den Sprachen rief: „Ja, Schpeiderman!“
MJ steht am Anfang der Geschichte: es passiert, als Peter Parker sie im Labor der Universität neben dem Spinnen-Terrarium fotografiert, dass die labormanipulierte blaurote Spinne beißt und ihm diese Fähigkeiten verleiht. Also MJ. Peter Parker liebt sie, sie liebt unwissend seine zweite Identität. Sein alter ego.
Spiderman, ein Mythos wie viele andere: eine Doppelidentität, ein Doppelleben, Widersprüche zwischen Gefühlen, Wünschen, Welten. Unfähigkeit auf dem Boden, magische Sprünge in der Höhe.
Kein Heiliger: nachdem er MJ seine Identität enthüllt hat und ihre Liebe gewonnen hat, wird er selfish, selbstsüchtig, eitel. Angegriffen von einer schwarzen schleimigen Tarantel wird er sogar zornig, gewalttätig, rachsüchtig.
MJ wartet. Es ist Dramaturgie, sicher, dennoch steckt dahinter eine Prise Wahrheit. Die menschlichen Wege – und auch die der Helden – sind nicht geradlinig, eher verschlungen. Konfus. Alles kann passieren. Es kann passieren, dass ein guter Junge den schwarzen Spiderman-Anzug vorzieht und aus Rache handelt. Dass er die Freundin verletzt, vielleicht unwissend. Dass er den Freund in Gefahr bringt. Dass er sich verliert. Aber Menschen – und Helden – haben auch die Kraft, aus dem Labyrinth zu finden und ihre Schatten- und Sonnenseiten zu vereinen. MJ weiß es. Ich weiß es.
Den dritten Film haben wir aber noch nicht zu Ende gesehen. Spiderman ist noch nicht aus dem Labyrinth. MJ wartet noch.
Maria Giovanna Tassinari leitet das Selbstlernzentrum am Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Autonomie von Lernenden und Lehrenden, Sprachlernberatung, Emotionen und Gefühle in Fremdsprachenlern- und lehrprozesse sowie in Beratungsprozessen.
Sie ist im wissenschaftlichen Board des Research Institute for Autonomy in Language Education, sowie Mitglied von Learner Autonomy Special Interest Group vom IATEFL und Autonomy Focus Group von Cercles.
Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen hat sie auch einen privaten Blog.
https://www.sprachenzentrum.fu-berlin.de/slz/index.html
https://lasig.iatefl.org/
https://kuis.kandagaigo.ac.jp/rilae/
https://bloggiovi.wordpress.com/