Freitag morgen beim Bäcker

von Maria Giovanna Tassinari

Heute morgen gehen wir Kaffee trinken. Wir gehen zur Konditorei am Ende der Straße. Normalerweise kaufen wir den Kaffee und trinken ihn auf der Bank am Platz. Wir beobachten dann die Menschen, die vorbeigehen, hören dem Zwitschern der Vögel zu, schauen den Farben und Mustern der Blätter nach.

Heute regnet es, und wir setzen uns an einen der Tische im Laden. Ein großer Kaffee für ihn, ein Kaffee und ein Croissant für mich. Für jeden eine Zeitung.

Hinter uns das Geschäft. Eine neue Verkäuferin hat heute angefangen. Sie ist jung und dünn, und bewegt sich unsicher hinter der Theke. Die beiden anderen Verkäuferinnen sind älter und runder. Eine der älteren Verkäuferinnen erklärt ihr die Vorgänge und gibt Hinweise: „Hier fehlen noch die Preisschilder“, oder „Komm mit, ich zeige dir, wie man die Brotschneidemaschine bedient“. Die Verkäuferin hat eine helle, ihre Worte klingen wie die hohe Tasten an der rechten Seite des Klaviers.

Es ist noch früh, und die ersten Kunden trudeln ein. Zwei junge Männer bestellen Kaffee, einer erkundigt sich nach einer großen Quiche: „Was ist das?“
„Eine Spinat- und Käse Quiche. Vegetarisch!“, antwortet die Verkäuferin.

„Kann ich auch nur ein Stuck haben?“, fragt der Kunde unsicher.
„Aber klar!“, ruft die Verkäuferin, eine Oktave höher, und fügt für den anscheinend unbeholfenen Kunde hinzu: „3 Euro 30 das Stück.“ Die Quiche wird geschnitten und eingepackt.

Ich sippe an meinem Kaffee, tunke unbeobachtet den Horn meines Croissants ein, beiße zu und widme mich meiner Zeitung.

Der nächste Kunde: „Ich hätte gerne vier Mohnbrötchen, bitte.“
„Welche“, fragt sie vorsorglich, „die länglichen oder diese vorne?“
Auch die Brötchen werden eingepackt.

Während die junge Verkäuferin ihr folgt und lernt, und die andere ältere rausgeht und Tische sauber macht, scheint die Verkäuferin im Laden es zu genießen, die volle Kontrolle hinter der Theke zu haben.

Die nächste Kundin ist eine weißhaarige, elegante Frau. Sie möchte etwas mit Schokolade.

„Hier, ein Schokoladencroissant!“, trillert die Verkäuferin und deutet auf ein einsam liegendes Croissant am Rande eines Tabletts.

Die Kundin ist skeptisch: „Ist es nicht etwa von gestern?“

„Aber nein! Wir verkaufen doch keine Ware von gestern!“, erwidert die Verkäuferin mit freundlicher Empörung. Anscheinend war es ein Versehen der neuen Verkäferin, dass das Croissant so alleine am Rand des Tabbletts lag.

Das Missverständnis geklärt, plaudern Kundin und Verkäuferin weiter. Die Kundin ist eine Stammkundin, noch von früher, sagt sie, von den Zeiten des ersten Besitzers. Ihr Sohn habe hier schon als Junge Brötchen geholt, jetzt ist er Familienvater.

„Uns gibt es seit 30 Jahren“, fügt die Verkäuferin hinzu, Stolz in ihrer Stimme.

Weitere Kunden kommen herrein, die Verkäuferin hat immer mehr zu tun. Unsere Kaffee sind ausgetrunken. Wir stehen auf und verabschieden uns. Die Stimme der Verkäuferin klingt nach, wie Regentropfen auf dem Fenster.

Maria Giovanna Tassinari leitet das Selbstlernzentrum am Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Autonomie von Lernenden und Lehrenden, Sprachlernberatung, Emotionen und Gefühle in Fremdsprachenlern- und lehrprozesse sowie in Beratungsprozessen.
Sie ist im wissenschaftlichen Board des Research Institute for Autonomy in Language Education, sowie Mitglied von Learner Autonomy Special Interest Group vom IATEFL und Autonomy Focus Group von Cercles.
Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen hat sie auch einen privaten Blog.

https://www.sprachenzentrum.fu-berlin.de/slz/index.html
https://lasig.iatefl.org/
https://kuis.kandagaigo.ac.jp/rilae/
https://bloggiovi.wordpress.com/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert