Farbenschreiben

// von Maria Giovanna Tassinari //

Zoom Meeting mit drei anderen Kollegen. Wir schreiben gemeinsam an einem Text. Der Text in Moodle, ein Etherpad, entsteht in verschiedenen Farben, je nachdem, wer schreibt. Grün für L., Lila für H., Rosa für E. und Graublau für mich. Dadurch wissen wir immer, wer was schreibt. Jeder von uns entwirft einen Teil des Textes, dann wird gemeinsam gelesen, diskutiert, umformuliert, verbessert. Es kostet Zeit, wir sind sehr gründlich.
Zwischendurch schweift meine Aufmerksamkeit ab. Ein lila Wort schleicht sich in einen grünen Abschnitt ein, ein Vorschlag von H. Ich mag lila, denke ich. Ich mag auch rosa, überlege ich weiter. Warum habe ich graublau?
„Wenn du auf deinen Namen gehst, siehst du links von dir das Kästchen mit der Farbe. Klickst du darauf, kannst du dir eine andere Farbe aussuchen.“, erklärt mir E.
„Ah,“, antworte ich. Ich muss laut gedacht haben.
Tatsächlich bewege ich meine Maus auf das Kästchen und eine ganze Farbenwelt eröffnet sich mir: Rot, Orange, Fuchsia, Braun, Grün, Gelb …
„Mich stören die Farben eher“, sagt H., „ich habe sie ausgeblendet.“
„Ausgeblendet? Wie?“, fragt E.
„Geh auf das Auge, oben in der Leiste“, erklärt H.
„Das Rädchen?“
„Nein, das Auge“, wiederholt H.
In der Zwischenzeit habe ich mich für ein leuchtendes hellblau entschieden und bin sehr zufrieden.
Das Auge sehe ich auch, ich bewege meine Maus darauf und erschrecke: der ganze Text würde weiß werden! Nein, nein, nein, will ich nicht. Und gehe wieder zurück.
Und plötzlich ist der ganze Text doch weiß!
„Was habe ich jetzt gemacht?“, sagt E., „Ich habe den Text für alle weiß gemacht! Oh Mist!“
Es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Ich finde mich damit ab. Wir alle.
Wir nehmen die Arbeit wieder auf und besprechen den nächsten Abschnitt. Und jetzt, wenn L. schreibt, ist der von ihm eingegebene Text wieder grün. Leuchtend im restlichen Weiß. Und H. hat jetzt Orange. Und ich mein leuchtendes hellblau. Alles in Ordnung.
Wir stolpern über eine Formulierung. Wir überlegen, machen Vorschläge. L. schreibt. Er ändert ein Wort, er verschiebt einen Satz nach oben. Besser jetzt?
„Es ist doch das Gleiche in Grün!“ sagt er.
Buchstäblich.

Maria Giovanna Tassinari leitet das Selbstlernzentrum am Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Autonomie von Lernenden und Lehrenden, Sprachlernberatung, Emotionen und Gefühle in Fremdsprachenlern- und lehrprozessen sowie in Beratungsprozessen.
Sie ist im wissenschaftlichen Board des Research Institute for Autonomy in Language Education, sowie Ko-Koordinatorin von Learner Autonomy Special Interest Group vom IATEFL und Autonomy Focus Group von Cercles.
Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen hat sie auch einen privaten Blog.

https://www.sprachenzentrum.fu-berlin.de/slz/index.html
https://lasig.iatefl.org/

Der Verlag Akademie der Abenteuer wurde Ende 2020 gegründet, um in diesem Kinderbücher neu aufzulegen und Bücher in die Welt zu bringen, die es sonst vielleicht nicht gegeben hätte. Seitdem sind über 50 Bücher von mehr als 20 Autorinnen und Autoren aus vielen Teilen der Welt erschienen – und die Reise geht weiter. Alle Bücher des Verlags lassen sich finden im Überblick.

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