Erreichbarkeit

// von Erwin Grosche //

Gibt es eine Erreichbarkeit über den Tod hinaus? Gott ist immer erreichbar. Wie modern er geworden ist. Ihm reichte es früher, dass man nichts von ihm weiß. Allen ahnten, dass da was ist, der Rest wurde offen gelassen. Ich war mal eine zeitlang gut erreichbar, aber niemand rief an. Gibt es etwas wichtigeres als da zu sein, wenn andere uns erreichen wollen? Ich werde immer von einem Klingelton magisch angezogen, selbst wenn er nicht von meinem Apparat ausgeht. Ist es nicht verzeihbar, auch bei bei einer Beerdigung, wo sie Trost spenden wollen, dass man dem Klang eines Smartphones folgt? „Oh Entschuldigung, da muss ich jetzt rangeh’n, das ist mein Fitnesstrainer.“ Das spendet Trost, auch weil es zeigt, dass das Leben weitergeht. Die Annahme des Gesprächs ist ein Lebenszeichen, dass es uns noch gibt. Wir sind da und einsatzbereit. Ist es nicht auch bei einem Unfall verzeihbar, wo sie gerade eine Mund zu Mundbeatmung einleiten wollen, dass sie auf das „Lidl lid li lidl li“ des Handys reagieren und ein Interesse bekunden? „Oh Entschuldigung, da muss ich jetzt rangeh’n, das ist mein Versicherungsvertreter. Die wollen wissen wie viele Autos in den Unfall verwickelt sind.“ Auch ich reagiere bei einer stürmischen Liebesnacht, wenn das Handy uns mit seinem „Lidl lid li lidl li“ in die Wirklichkeit ruft und sage: „Entschuldigung, da muss ich jetzt ran geh’n, das ist meine Frau.“ Natürlich nehme ich das Gespräch an, selbst beim Entschärfen einer Bombe, sogar wenn ich der einzige bin, der in den verbleibenden zehn Sekunden sagen kann, ob der gelbe oder der blaue Draht durchgetrennt werden muss und reagiere: „Oh Entschuldigung, da muss ich jetzt rangeh’n. Das ist mein Augenarzt, der mich behandelt wegen meiner Farbblindheit.“ Mir erzählte mal ein Mann, dass er bei seiner Hochzeit, kurz bevor er vor dem Altar das alles erlösende „Ja“ Wort geben sollte und der Priester ihn schon das vierte Mal gefragt hatte, ob er wirklich diese neben ihm stehende Frau heiraten wolle, an sein Handy ging, und sagte: „Ja“. Laut und deutlich „Ja“. Es war die Idee des Priesters gewesen ihn anzurufen, weil er ganz sicher sein war, dass er dadurch die volle Aufmerksamkeit des Bräutigams hatte. Weil er wusste, dass viele Menschen besser zuhören können, wenn sie angerufen werden. Mit der Situation können alle umgehen. Die wirft uns nicht aus dem Konzept. Die Erreichbarkeit lässt die Ferne schwinden. Man muss nicht mehr dort sein, wo der andere ist. Jeder ist überall und immerzu da. Jeder ist immerzu bereit wie Gott. Jeder ist Gott.    

Der Autor, Schauspieler, Kabarettist und – nicht zu vergessen ! – Paderborner Erwin Grosche, in jedem seiner Fächer ein herz- und kopferreichender Meister, veröffentlicht im Verlag Akademie der Abenteuer als nächtes Buch den Gedichtband „Das ist nicht so, das ist ganz anders“. Die umwerfenden farbigen Holzschnitte dazu stammen von Hans Christian Rüngeler. Inzwischen arbeitet Erwin Grosche an „Grosches Weltlexikon Zwo“ – es wird im Frühjahr 2023 im Verlag Akademie-der-Abenteuer erscheinen.

Der Verlag Akademie der Abenteuer wurde Ende 2020 gegründet, um in diesem Kinderbücher neu aufzulegen und Bücher in die Welt zu bringen, die es sonst vielleicht nicht gegeben hätte. Seitdem sind über 50 Bücher von mehr als 20 Autorinnen und Autoren aus vielen Teilen der Welt erschienen – und die Reise geht weiter. Alle Bücher des Verlags lassen sich finden im Überblick.

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