Gummilippen

von Kris Kersting

In der Schlange bei Rossmann. Vor mir eine Dame die offenbar unstillbaren Gesprächsbedarf und monetär mit Kupferlingen der digitalen Fiskalpolitik frönte, hinter mir ein Bauarbeiter in Eile, eine Großfamilie mit süßem kleinen Volk, welches aber schiere Oppositionshaltung einnimmt, sobald die Obrigkeit zur Ordnung aufruft.
Gott, für die olle Schaumtönung nun soooo lange an der Kasse warten.
Immerhin sind die Süßigkeiten linksbündig an der zweiten Kasse positioniert, so dass zumindest diesbezüglich die lange Wartezeit keine erfolgreichen Schwächeanfälle hervorrufen kann.
Die Kassiererin ist neu. Aushilfe? Perfekt gemachte Haare. Balayage Look. Toll. Hätte ich auch gerne. Woher hat sie das Geld für die offenbar zahlreich erfolgten OPs und das ganze Permanent Makeup? Lidstrich dauerhaft, Lippen mehr als eindeutig aufgepumpt und gefärbt, Augenbrauen kein Stück Haar, lediglich tätowiert, viel zu dicke Balken. Bert Look. Gerade mal 18? Wahrscheinlich erst 16, aber da darf man solche Dinge doch noch nicht?
Irgendwie tut sie mir leid. Sicherlich hat sie nicht genug Selbstbewusstsein und praktiziert daher dieses grausame Changemanagement.
Ah, ich bin dran. Herrlich!
„Guten Tag“ ich lächle sie herzlichst an. Zu vor Corona Zeiten, war das ja noch erfolgreich möglich.
Nun kommt ein niedlich aussehender Opa rein, drängelt sich in meinen Kassiervorgang.
„Haben Sie Gummilippen?“ fragt er energisch, leicht unfreundlich.
Mir stockt das Herz. Wie kann man nur so fies sein und die junge Dame so derart damit konfrontieren? Ich schüttle unverständig den Kopf und setze den ermahnenden Blick auf, der sonst üblicherweise nur meinen DNA Proben zuteil wird.
Sie wird schlagartig rot, ihre pudrig tätowierten Lippen heben sich kaum vom Teint ab. Die Farblinie endet kurz unter dem Kinn.
Meine Güte, der Bauarbeiter lacht leicht grunzend. Die Kassiererin bekommt rote Augen vor Aufregung und will gerade etwas sagen, da schreite ich mutterschiffsensorisch ein: „Entschuldigen Sie bitte, Ihre Annahme ist ziemlich dreist! So etwas bleibt doch jedem selbst überlassen!“ ermahne ich mit mütterlichem Ton den nunmehr gar nicht mehr als so süß empfundenen Opa.
Er schaut mich an, schüttelt den Kopf, wendet sich ab. Hat offenbar nichts verstanden oder sein dickes Hörgerät ist falsch eingestellt.
„Meine Frau sagt Sie haben Gummilippen?“ wendet er sich wieder an die arme Kassiererin, die heute sicherlich lieber im Bett geblieben wäre. Er zeigt mit zittriger Hand seinen Einkaufszettel und deutet auf die kaum leserliche Schrift seiner Frau. „Gummilippen“ steht da.
Plötzlich hörte man eine dominante Stimme von der Nebenkasse: „die finden Sie hinten bei den Reinigungsmitteln, Schwämmen …“
Verdutzt schaue ich die getunte Kassiererin an und frage beschämt ganz kleinlaut „Ohje, das tut mir leid. Was sind denn Gummilippen?“.
„Das weiß ich auch nicht“ sagt sie.
„Duschabzieher“ tönte es von Kasse 2.
Mit erhöhter Temperatur und Gummilippentrauma beschleunige ich den Bezahlvorgang und wünsche ihr noch einen schönen Tag.
Dieser Besuch im Drogeriemarkt hat mich in 5 Minuten mehr gelehrt als diverse Kommunikationsseminare: Keine Wertung, Information filtern, Unverständiges sachlich hinterfragen, keine emotionsgebeutelte Fehlinterpretation, Mutterschiffsensorik in Standby und verdammt nochmal erstmal zuhören.

Kris Kersting, in den 70ern geboren, illustriert, malt und setzt Bücher. Begonnen hat sie im Verlag Akademie der Abenteuer, dem sie bis heute und in die Zukunft die Treue hält. Mittlerweile aber sind ihre Fähigkeiten auch deutschlandweit gefragt. Ihre zeichnerischen Werke im Verlag Akademie der Abenteuer: Akademie der Abenteuer, Satz & Illustrationen, Der Schnüffel-NO, mehr.

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