von Boris Pfeiffer
Auf dem Rückweg wird dem Kind im Auto schlecht. Sein Vater beruhigt es, sein etwas älterer Bruder rät ihm, fest die Augen zu schließen und sich nur auf sich zu konzentrieren, ich fahre die Kurven sachte wie früher beim Taxifahren in Berlin, wenn ein Kind oder ein Kneipengänger sich zu übergeben drohte. Während ich die letzten Kilometer dahingleite, denke ich über die Kinder nach. Sofort nach dem Essen im Haus auf dem Land war ihnen langweilig. Das Wort habe ich in den letzten Tagen öfter gehört und spüre immer mehr, dass es mich verwundert und stört. Der Gastgeber heute erzählte von einem Kind, das vor einiger Zeit ebenso mit seinen Eltern bei ihm zu Gast war und mit einem Pappkarton spielte, was ihn an seine eigene Kindheit denken ließ.
„Mit einem Pappkarton bin ich über das Meer gefahren, geflogen, habe mir ein Haus gebaut …“ –
„… und Computer gespielt“, wirft der Vater der Kinder dazu.
Alle lachen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich den scheinbar durchaus treffenden Scherz aufnehmen will. Denn ich empfinde ihn zugleich als eine Art Verteidigung der eigenen Lage als Vater zweier den gesamten Nachmittag über Tablet spielender Kinder, nicht aus schlimmer Verletzung geboren, eher aus einer Art väterlicher Modernität im Sinne des jüngeren Besserverstehendwissenden, wie die Welt sich entwickelt habe. Aber rechtfertigt das tatsächlich das Gesagte?
Den Nachmittag haben die beiden Kinder weitgehend am Tablet der Gastgeberin verbracht, zuletzt die höchstsüchtig machende Süßigkeiten-Zerschmetterungs-Saga. Als ich ihnen am frühen Abend sage, dass wir aufbrechen und sie aufhören müssen, ist der Ältere dabei. Der Kleinere, dem gleich darauf schlecht werden wird, nicht. Er kann nicht ablassen und empört sich im Versuch angewandter Sprachlogik schreiend gegen den Verlust, den Level aufgeben zu sollen, den er weder hier noch woanders so wieder wird aufnehmen können. Natürlich muss er das übergeordnete Bild nicht im Blick haben, er ist ja noch ein Kind. Aber er will sich suchtmächtig durchsetzen und ich spüre, dass er gewohnt ist, dies oftmals zu erreichen. Ohne Härte bleibe ich trotzdem hart. Gleich darauf hat er sich dann auch beruhigt. Dann wird ihm im Auto schlecht.
Aber was ich mich wirklich frage, geht tiefer. Ich beobachte die Kinder, denen ich sehr zugetan bin, seit einigen Tagen des mehr oder minder täglichen Zusammenlebens und merke, wie permanent sie passiv in Aktivität versetzt werden wollen. Spielhalle, Tablet, bespielt werden vom Vater, von mir. Wenn sie nicht bespielt werden: Langweilig. Wenn keine Geräte zur Verfügung stehen: Langweilig. Schwerter: für eine kurze Zeit schick, dann: Langweilig. Langeweile entwickeln sie zügig und schnell. Viel weniger entwickeln sie eigene Aktivität. Natürlich höre ich diesem Moment ihren Vater rufen, das stimme nicht und den gesamten Akt väterlicher Modernität im Sinne des jüngeren Besserverstehendwissenden, wie die Welt sich entwickelt habe.
Doch ich ahne, dass wir den Kindern zu viel Userdasein zugebilligt und verpasst haben. Denn sie können mit kartenspielenden Kindern Karten spielen, auch wenn der andere Bruder abkotzt, dass er deswegen jetzt nicht in die Spielhalle kann, weil er es ohne den jüngeren Bruder auch wieder: langweilig findet.
Das Dilemma reicht jedoch weiter. Alleine um das Haus zu laufen, kam ihnen nicht in den Sinn. Das Terrain zu erforschen kam ihnen nicht in den Sinn. Eine Expedition aufzunehmen, sie mit Neugier und der Phantasie zu verfolgen, wirkt wie etwas, das hinter Gitterstäben verborgen scheint. Sie sind vielleicht schon die Panther in Rilkes Gedicht. Und gerade weil beide Kinder sehr viel wissen, belesen wirken und sich viel merken können, sowie wortgewandt, schlagfertig und theoretisch neugierig sind, bin ich in diesem Moment besorgt über ihre weitere Lebenspraxis.
Boris Pfeiffer ist einer der meistgelesenen Kinderbuchautoren Deutschlands, sein Werk in viele Sprachen übersetzt. Im Verlag Akademie der Abenteuer erscheint seine (dem Verlag den Namen gebende) Buchreihe um die Magie des Wissens und die Macht des Geldes Akademie der Abenteuer. Zuletzt erschien zusammen mit der in Australien lebenden Malerin Michèle Meister der Gedichtband Lockdown – ein C-Movie. Im September erscheint bei Harper & Collins, Deutschland seine neue vierbändige Erzählung Survivors.