Madonna und Magdalena

von Maria Giovanna Tassinari

Zum ersten Mal nach langer Zeit sind wir wieder in einem Museum. In der Galleria degli Uffizi. Wir wandern von Saal zu Saal, stehen lange vor Gemälden, tauchen in Gestalten, Farben und Landschaften wie in vergessene Träume, die wieder lebendig werden.
Diese Emotionen kann ich kaum beschreiben. Die Freude, sich in einem Saal von einem Bild angezogen zu fühlen, als ob es einen rufen würde, dorthin zu gehen und es in Stille zu betrachten, wahrzunehmen. Dann die Freude, die Farbtöne, den Duktus, die Welt des Malers zu treffen. Ich kann mich nicht satt sehen. Es ist auch eine Reise zurück in meine Jugend. Nie habe ich das Wunder vergessen, zum ersten Mal vor Botticellis Flora zu stehen. Die Säle der Uffizi waren viel heller damals, ich, 15 oder 16 Jahre alt, einige Freundinnen mit mir. Ich hatte für nichts anderes Augen.
Die Freude, das Wunder wiederholen sich. Entstehen neu. Mein Blick ist aufmerksamer geworden, mein Geist sanfter.
In einem Saal bleibe ich vor einer Verkündigung stehen. Der Erzengel Gabriel kniet vor der Jungfrau und streckt sanft seinen rechten Arm, die Hand gehoben, Maria entgegen. In der linken Hand eine Lilie. Seine Kleidung von einem milden Rosa, drapiert um seinen Leib. Auf der anderen Seite tritt Maria hinter einem Lesepult hervor und streckt ihm ihre Arme entgegen, in einer Geste zwischen Abwehr und Anmut, die rechte Hand gehoben, symmetrisch zu Gabriels Hand, ihr Kopf ist nach rechts gebeugt.
Noch nie habe ich eine solche Geste gesehen.
Später denke ich an die Verkündigung von Luca Signorelli zurück, die wir vor zwei Jahren in der Pinacoteca von Volterra bewundert haben. Auch dort hat Maria den Kopf leicht nach rechts gebeugt, die Oberarme gehoben, die Hände offen, in einer sich ergebenden Defensive.
Später fängt eine Magdalena meinen Blick. In ein blaues Kleid gekleidet, mit einem roten Umhang um ihre Beine, kniet sie am Fuß des Kreuzes, die Arme diagonal nach rechts und links gestreckt, ihren Blick zu Christus gerichtet. In ihrem Gesicht ruhige Verzweiflung.
Am Anfang des Lebenswegs steht Maria, am Ende Magdalena.
Ich bleibe. Ich gehe weiter, das Geheimnis und das Wunder dieser Frauen in meinem Herzen.

Maria Giovanna Tassinari leitet das Selbstlernzentrum am Sprachenzentrum der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Autonomie von Lernenden und Lehrenden, Sprachlernberatung, Emotionen und Gefühle in Fremdsprachenlern- und lehrprozesse sowie in Beratungsprozessen.
Sie ist im wissenschaftlichen Board des Research Institute for Autonomy in Language Education, sowie Mitglied von Learner Autonomy Special Interest Group vom IATEFL und Autonomy Focus Group von Cercles.
Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen hat sie auch einen privaten Blog.

https://www.sprachenzentrum.fu-berlin.de/slz/index.html
https://lasig.iatefl.org/
https://kuis.kandagaigo.ac.jp/rilae/
https://bloggiovi.wordpress.com/

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