Familienbande

von Boris Pfeiffer

Die meiste Zeit verbringt sie mit ihrer Schwester, vor allem im Sommer. Sie wohnen zusammen am Meer, kümmern sich umeinander, streiten ab und zu über die Halsstarrigkeit der anderen, wissen jeweils hinter dem Rücken der anderen besser, um was es sich dreht und wie dies und jenes sein sollte. Vor allem aber haben sie einander und sind nicht allein. Sie sind 85 und 80, ihre beiden Männer sind gestorben. Die eine hat ihren Mann am Ende nicht mehr lieben gekonnt, trotz ihrer vier gemeinsamen Kinder. Diese Entfremdung wäre eine eigene Geschichte. Die andere hat ihren Mann wie verrückt geliebt, auch wenn er über das Leben zu viel Wein getrunken und zu gerne gekocht und gegessen hat. Ihre Reisen, ihr Sohn, die Wanderungen, das Lachen haben die Sorgen weit mehr als aufgewogen. Einige Zeit vor seinem Tod hat ihm sein Arzt befohlen, alle seine fünf Liter Korbflaschen aus der Garage zu bringen oder sie zumindest in Zukunft leer zu lassen. Er hat sich so gut wie daran gehalten und ist dann doch an der Leberzirrhose gestorben.
Wenn sie nicht mit ihrer Schwester zusammen ist, kümmert sie sich um ihren Enkel. Mit dessen Mutter ist es eine schwierige Sache für sie. Wenn diese mit ihrem Mann und ihrem Sohn den Sommer am Meer verbringt, dann kann es passieren, dass die Schwiegertochter die Großmutter bittet, ein oder zwei Wochen auf den Enkel aufzupassen. Im Sommer hat der Mann der Schwiegertochter, also ihr Sohn, Geburtstag. An diesem Tag geht die Schwiegertochter mit ihrem Mann und ihrem Sohn essen und lädt die Schwiegermutter nicht mit dazu ein. An diesen Tagen kommt sie zurück zu ihrer Schwester. Immer wenn die Schwiegertochter jemanden braucht, der sich um ihren Sohn kümmert, ruft sie aber die Schwiegermutter. Es ist eine unleidliche Beziehung, grenzenlos im Wollen und Ausnutzen, vielleicht respektlos, vielleicht einfach nur grob, abweisend und unwirsch. Dennoch käme die 80jährige niemals auf die Idee, sich nicht um ihren Enkel zu kümmern. Sie steht bereit, bei ihm zu sein, selbst seit er nachts bis tief in die Nacht ausgeht. Sie hat sich um ihn gekümmert und wird es solange tun, wie sie gebeten wird oder fühlt, dass ihr Enkel es in seinem Lebenshintergrund will. Der Junge ist jetzt 17. Ein sportlicher junger Kerl mit großen Augen.
Als ich sein Foto sehen und ihr sage, er wäre ein schmucker junger Mann und sie frage: „Hat er die Augen seiner Mutter?“, schüttelt sie den Kopf und lächelt schräg. „Nein, er hat die Augen meines Mannes.“ Auf einmal ist alles klar.

Boris Pfeiffer ist einer der meistgelesenen Kinderbuchautoren Deutschlands, sein Werk in viele Sprachen übersetzt. Im Verlag Akademie der Abenteuer erscheint seine (dem Verlag den Namen gebende) Buchreihe um die Magie des Wissens und die Macht des Geldes Akademie der Abenteuer. Zuletzt erschien zusammen mit der in Australien lebenden Malerin Michèle Meister der Gedichtband Lockdown – ein C-Movie. Ende September erscheint bei Harper & Collins der erste Band seiner neuen Kinderbuchreihe SURVIVORS.

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