von Boris Pfeiffer
Die meisten Menschen nennen das Bild „Anbetung der Könige (aus dem Morgenland)“ oder wie es in den Florentinischen Uffizien in der Landes- und Muttersprache des Künstlers heißt „Adorazioni dei magi“. Zudem gilt es als unvollendet.
Ich sehe es anders. Kein anderes Bild in diesem für die Menschheit magischen Museum öffnet mir den Blick weiter in unser Leben. Die Pferde blicken mich mitfühlend an. Lebendige Wesen, deren unverhohlenem Blick ich nicht ausweichen kann oder wollte. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass jetzt, während ich in einem dünstigen Sommerzimmer über einem Sandstrand sitze und nachsinne, was ich blickend erlebt habe, eine Diseuse für lustige Strandspiele am Abend an der Bar wie ein Pferd wiehert. Doch die Haltung des Kopfes dieses Pferdes, seine Aufrechte, die Liebe des Blicks inmitten einer Masse von so gut wie entlebten Menschen, wird diese nette Unterhaltungsgestalterin nicht aufbringen. Und hoffentlich auch nicht die eitle Anmaßung des Mannes hinter dem Baum, der meint, die Masse mit erhobenem Zeigefinger und einer Krebsscherenkralle als zweiter Hand, die in Dunkelheit versinkt, anleiten zu können.
Doch die Verzweiflung wird auch sie kennen. Sie liegt in den Gesten der Gestalten des Bildes, hilflos geöffneten, an den Kopf geschlagenen, über das Haupt gelegten Händen. Unvollendet gilt das Werk wohl ob seiner hellen Stellen, die die Gestalten wie aus einem Geisterreich scheinen lassen.
Ich erlebe sie 2021 als Brückengestalten der Kunst und der Transition. Denn selbst die ganz und gar liebevolle Gestalt der Kindesmutter ist ein Schemen. Ein lichtes Schemen, in dessen Armen ein Punk mit einem so neutralem oder gar abschätzigem Blick liegt, der aussieht, als würde ein stammesfrisierter einer schon viel zu lange geknechteten Minderheit vollkommen frei umherblicken. Der Blick dieses Kindes verkündet die absolute Müdigkeit an Herrschaftssallüren und es trägt eine jede Herrschaft karikierenden Frisur und kratzt sich mit einem victorygleichen Zeichen am Ohr, lässig gehalten und lässig selbst in den Armen der durchscheinenden Maria.
Wer das bemerkt? Die Menschheit ist mehr bei ihren eigenen Gefühlen. Beten, Hoffen, Wollen, Fürchten, sich zerteilen, untertänig knutschen, die Glocke läuten, sich darnieder werfen, sich auflösen, sich in die Netzwerke der Architektur einschreiben, Dachgärten, Festivals mit und ohne Opfer, Einhörner anbeten, Krieg, Land, Sturm, Vernichtung , sterben, sich abwenden, kalt, weißgesichtig, Leid.
Das lachende Pferd fängt es auf, der fressende Mund nimmt es nicht wahr. Und das ist nur die erste Runde, die ich auf diesem Karussell erlebe.
Boris Pfeiffer ist einer der meistgelesenen Kinderbuchautoren Deutschlands, sein Werk in viele Sprachen übersetzt. Im Verlag Akademie der Abenteuer erscheint seine (dem Verlag den Namen gebende) Buchreihe um die Magie des Wissens und die Macht des Geldes Akademie der Abenteuer. Zuletzt erschien zusammen mit der in Australien lebenden Malerin Michèle Meister der Gedichtband Lockdown – ein C-Movie.