von Boris Pfeiffer
Da ich am Morgen beim Joggen einige Stachelschweinstacheln auf dem Weg liegen gesehen habe, lade ich meine Neffen nach dem Mittagessen auf einen Abenteuerspaziergang ein: Durch den Finsterwald, über die Staubstraße, vorbei am Schlangenfeld und den Höllenhunden zum Stachelschweinstachelfeld. Zuerst will der ältere mitkommen, sagt aber wieder ab, als sein jüngerer Bruder der gleichen Meinung ist, denn so kann er Papa für sich genießen.
Nach dem Essen brechen wir auf. Mein Neffe hat seinen Zauberstab dabei, einen nach oben gespaltenen Stock, in dem eine große Muschelschale steckt. Er wird uns von bestem Nutzen sein.
Im Finsterwald finden wir ein Feuerzeug, das einen Kinderschutz zu haben scheint, denn nur mir gelingt es, ihm eine Flamme zu entlocken, obwohl mein Neffe das Prinzip des Geräts nicht nur kennt, sondern auch erklären kann. Er kann so ziemlich alles erklären, was er gelesen hat, seine Aufnahmefähigkeit und Intelligenz übersteigt jedes gewöhnliche Maß. Sein älterer Bruder ist ähnlich klug. Die beiden erstaunen mich wie auch die Hotelangestellten, sie sind augenscheinlich überbordender klug als jeder ihrer Vorfahren der Familie, den wir kennen. Es wäre schön, wenn dies die neue Generation würde, wenn sie denn ihre Liebe zum Wissen und Leben über ihren Netflixkonsum stellen könnte. Die Staubstraße am Schlangenfeld und die Höllenhunde passieren wir ohne die selbigen, was mein Neffe auf die Wirkung seines Zauberstabs zurückführt, der Schaden abwendet. Dagegen treten wir in eine verlassene Ruine ein, in der aus dem oberen Stockwerk eine Katze auf uns zukommt, eine ganze lange Treppe herab. Auch dies ist der Wirkung des Stabes zuzurechnen, der auf gutartige Wesen anziehend wirkt.
Am Stachelschweinstachelfeld finden wir vier Stacheln, die dem Zauberstab hinzugefügt werden. Es folgen ein Sträußchen Lavendel, das meinen Neffen zum entzückten Ausruf veranlasst, er liebe Lavendel, er lasse ihn gut schlafen und sei überhaupt wunderbar im Geruch. Den Lavendel binden wir mit einen dünnen Schilfrohr an den Stab. Er leuchtet aufregend zwischen den schwarzweißen Stacheln, die wir über Kreuz in den Spalt neben die Muschel gesteckt haben, was uns ein druidenhaftes Aussehen verleiht. Es folgen eine Vogelfeder, eine holunderartige Dolde und ein Schneckengehäuse. Den Stab tragen wir ob des langen Weges nach und nach immer wieder abwechselnd, jeder darum bemüht, weder sich, noch dem anderen die Stacheln ins Gesicht zu piken. Wir wandern am Lavendelfeld entlang, über einen Damm. „Mutter Natur“, sagt mein Neffe ehrlichen Herzens, „ist das Schönste, was es gibt. Schöner als Häuser, schöner als Kino, schöner als Zuckerwatte.“ Da sind wir uns einig. „Und“, fügt er hinzu, „wohin wir auch blicken, da ist nur Mutter Natur.“ Erst nach der nächsten Kurve taucht das Städtchen wieder vor uns auf. Aber da wir gebürtige Großstädter sind, schaffen wir es, den Anblick zu verkraften.
Den Rest des Weges läuft mein Neffe in meinem Schatten, nachdem er sich erkundigt hat, wieviel ich wiege, um zu berechnen, ob ihm mein Schattenwurf ausreichen wird. Aus dem Schatten erklärt er mir, dass mein Bruder ihm gesagt habe, ich hätte weniger Ahnung davon, was kindgerecht sei als er, weswegen sein Wort, mein Neffe dürfe Spiderman nicht sehen, richtiger sei als mein vermutliches in Ordnung finden der Anfrage. Natürlich wurmt es mich, solcherlei zu hören, denn schließlich schreibe ich Kinderbücher für Hunderttausende Kinder und mein Bruder arbeitet mit 15 Kindern im Kinderladen. Aber ich zügele mein Mütchen, indem ich am Lavendel rieche und erzähle meinem Neffen meine eigenen Angsterlebnisse aus dem Bildschirm: Von der taubstummen Nachrichtensprecherin, die mich über Jahre als wirklicher talking head, der unter dem Bett hervorkam, verfolgt hat und den fiesen Erfahrungen beim Babysitten bei meiner Freundin Olga, als ihre Tochter nachts aufwachte und etwas zu viel James Bond mitbekam.
Den um viele Geheimnisse und Wirkungen angereicherten Zauberstab verstecken wir bei unserer Heimkehr unter dem Kanu meiner Schwager, da mein Neffe ihn nicht mit in die Wohnung bringen darf, worüber ich mich zugegebenermaßen ein wenig wundere, lässt man solch magische Objekte doch wahrlich nicht blindlings unbeaufsichtigt. Aber das Versteck ist gut. Dort kriecht sogar eine lebendige Schnecke im Schatten, der wir behütenden Kraft zuschreiben.
Boris Pfeiffer ist einer der meistgelesenen Kinderbuchautoren Deutschlands, sein Werk in viele Sprachen übersetzt. Im Verlag Akademie der Abenteuer erscheint seine (dem Verlag den Namen gebende) Buchreihe um die Magie des Wissens und die Macht des Geldes Akademie der Abenteuer. Zuletzt erschien zusammen mit der in Australien lebenden Malerin Michèle Meister der Gedichtband Lockdown – ein C-Movie. Im September erscheint bei HarperCollins der erste Band seiner neuen Kinderbuchreihe zum Überleben der Meeresbewohner im Klimawandel Survivors.