Stille nacht

von Gudrun Wiebke

Ein heißer Sommertag. Ich raffe mich auf, in die Hitze zu gehen, weil ich der Lust auf frische Erdbeeren von „meinem“ Straßenstand nicht widerstehen kann. Auf dem Rückweg halte ich mit beiden Händen die Schale mit den Früchten vor meinem Körper. Süßer Beerenduft steigt mir in die Nase.
 Ich komme am Seniorenheim vorbei. Eine mittägliche Stille ruht auf dem Haus. Kein Geschirrklappern mehr durch die gekippten Fenster. Die Sonnenterrasse leer. Selbst die wenigen Autos auf dem Parkplatz machen ein kleines Nickerchen.
Dann ein jähes Hochschrecken aus der Schläfrigkeit. Durch ein offenes Fenster schallt laut, in sauberster Klangqualität, „Stille Nacht, heilige Nacht“. Eine schwere, hoch emotionale Orchester-Version. Weihnachtliche Gefühle kriechen unter die Haut. Gedanken an Wintermantel statt Sommerkleid. Apfelsinen statt Erdbeeren. Heißer Weihnachtspunsch statt kühles Wasser mit frischer Pfefferminze. Und ich stehe da, höre zu, halte die Erdbeeren in der Hand, als wartete ich auf die Bescherung, um mein Geschenk überreichen zu können.  Ich schwitze noch mehr. Die sommerliche Anstrengung lastet auf mir. Die Augen sind von der Sonne geblendet.
Ich höre weiter: „Alles schläft, einsam wacht, …“ und freue mich für einen Moment auf gedeckte Herbstfarben, kürzere Tage, heißen Tee unter dem warmen Licht meiner Stehlampe.

Gudrun Wiebke schreibt Kriminalerzählungen und veröffentlicht demnächst ihre erstes Kinderbuch von Luca, seinem Lachen, seinen Tränen und seinen Freunden. Im Verlag Akademie der Abenteuer ist von ihr zuletzt erschienen: Kommissar Traudich und das Schweigen des Stoppelfelds.

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