Sie sollten Sie zu mir sagen

von Anka Rahn

Mein erwachsener Lieblingsradiosender überraschte mich mit einer interessanten Fragestellung: Wie zeitgemäß ist Siezen? Mich nervt dieses permanente Geduze. Ich erwarte ein Sie von wildfremden jungen Leuten, ob von den Neuankömmlingen im Lehrerzimmer oder vom Verkäufer beim Baumarkt. Außerhalb Skandinaviens und der Motorradtreffs fälle nur ich die Entscheidung zum Duzen!

Es war spannend, die unterschiedlichen Meinungen zu hören. Von Erfahrung und Tradition war oft die Rede. Eine Chilenin berichtete, dass es dort üblich ist, dass man die Eltern mit „Sie“ anspricht. Erstaunlich.

Nach Abschluss des Praxissemesters hatte mir meine Mentorin das Du angeboten – eine für mich überraschende Ehre. Ich bedankte mich und entschuldigte mich gleichzeitig dafür, dass ich diese Anrede nicht hinbekam. Schließlich war sie meine Lehrerin!

Mit meinen 23 Lenzen sah ich als Berufsanfängerin offenbar sehr jung aus. Grundsätzlich musste ich meinen Ausweis zeigen, wenn ich Zigaretten kaufen wollte. „Na, Kleene, sollen wir welche holen?“ Das waren die Neuntklässler, die sich breitschultrig grinsend hinter mir aufgebaut hatten. Das Du hatten sich die Jungs gerade so verkniffen. Diese Vertrautheit wollte ich keinesfalls! Wo sollte das hinführen, wenn ich dann vormittags in der Schule vor ihnen stand? Mein Bestehen hing davon ab, wie es mir gelang, meine eigene Einzelkämpfer – Rolle zu definieren. Da hatte Verbrüderung – oder sagt man Verschwesterung (?) – keinen Platz. 1985 war es in der DDR durchaus noch üblich, dass die Schüler nach der Jugendweihe ab Klasse 9 gesiezt wurden. Eigentlich eher auf der EOS, aber warum nicht auch an der POS? Das SIE wurde zu meinem Schutzschild und Schlachtruf zugleich: Ich respektiere euch, respektiert auch mich! Es hat funktioniert.

Ein Hoch auf das Sie!

Anka Rahn leitet die Boris Pfeiffer Schulbibliothek in Eberswalde. https://karl-sellheim-schule.barnim.de/schulalltag-partner/bibliothek/

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