Neil Armstrong und ich

von Gudrun Wiebke

Unzählige Male bin ich in die Stadt gefahren, um einzukaufen.
Unzählige Male habe ich die breite Hauptverkehrsstraße überquert, hinter der die Einkaufszone beginnt. Ich habe hier sogar einmal gewohnt.
Doch heute ist alles anders: Ich fühle mich fast als Eindringling, weil dieses Bundesland schon lange nicht mehr „mein“ Bundesland ist.
Ich bin angespannt. Welche Regeln gelten? Wo ist der inzwischen gewohnte Hinweis, in der Einkaufszone eine Maske tragen zu müssen?
Ich finde das Schild nicht. Nutze die Zeit, während ich an der Ampel auf Grün warte, um über die Straße zu den anderen Menschen hinüberzuschauen. Tragen die Masken? Einige ja, einige nein. Also kann hier jeder selbst die Entscheidung treffen? Das bin ich nicht gewohnt.
Die Ampel springt auf Grün, und ich überquere die Straße. Setze den ersten Schritt auf das Pflaster der Einkaufszone. Ich fühle mich plötzlich wie Neil Armstrong. Ob es ihm auch so erging, als er den ersten Schritt auf die Mondoberfläche setzte? Trat er auch erst einmal zaghaft auf? Fühlte er sich wie ich als Eindringling?
Trotzdem entscheidende Unterschiede zwischen uns: Er trat in eine stille, menschenleere Weite. Ich trete in eine lebendige, gut besuchte Fußgängerzone. Er kam aus einem harten, zeitaufwändigen Training, ich komme aus Monaten großer Entwöhnung und Entschleunigung. Er hatte sich bestimmt (davon gehe ich mal aus) mental auf den großen Moment vorbereitet, ich mich überhaupt nicht.
Ich habe einfach nur auf ein etwas unkomplizierteres Einkaufen gehofft. – Und dann das.

Gudrun Wiebke schreibt Kriminalerzählungen und Kindergeschichten. Im Verlag Akademie der Abenteuer ist von ihr zuletzt erschienen: „Kommissar Traudich und das Schweigen des Stoppelfelds„.

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