Entzug

von Boris Pfeiffer

„Aber warum habt ihr vor mir Angst gehabt?“ Ich sehe sie an. Sie ist einen Kopf kleiner als ich und ich hatte keine Angst vor ihr. „Nicht vor dir“, antworte ich. „Wir haben niemanden gesehen, dich nicht, niemand. Wir haben ein Jahr gelebt, ohne jemanden zu treffen.“ „Aber warum?“ Ja, denke ich, warum. Weil ich vor einem Jahr panischer war als heute. Weil ich inzwischen mehr Leute kenne, die mit dem Virus überlebt haben als an ihm gestorben sind. Weil ich jetzt geimpft bin zum ersten mal. „Ich auch“, sagte sie und dann fängt sie plötzlich an zu weinen. „Aber meine Schwiegertochter wollte unbedingt raus. Ist raus. Hat einen getroffen, der …“ Sie zeigt, wie sich einer was in die Nase zieht. „Und jetzt, zwei Tage habe ich mit meiner Tochter die Wohnung geputzt, gekratzt, so dreckig. Und sie hat die Kinder nicht zur Schule gebracht.“ Wir sprechen darüber, ich erzähle von meiner Jugendfreundin, die in der Drogenhilfe gearbeitet hat. „Ja“, sagt sie am Ende. „Vielleicht retten wir die Kinder. Sie muss selbst zum Entzug.“ Keiner sollte glauben, das Leben und Sterben hörte auf, nur weil Corona gekommen ist.

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