Mohn

von Susanne Weiss

Keine Ahnung, woher sie plötzlich kam. Ich war’s jedenfalls nicht. Aber eines Morgens war sie da. Rot, sehr zart, ein wenig schüchtern. In einem der zahllosen Töpfe und Kästen auf dem Balkon hat sie Wohnung genommen. Und nun ist sie ein geschätztes Mitglied meines Haushalts.
Sie war außerdem so freundlich, mich an eine alte Geschichte zu erinnern.
Nes Chonsu war die Verwandte eines einflussreichen Priesters im alten Ägypten. Wie viele bedeutende Persönlichkeiten trug sie für die Reise ins Jenseits einen prächtigen Blumenhalskragen. Nes Chonsus Kragen bestand aus Mimusopsblättern mit Blütenblättern des Blauen Lotus und Kombinationen von Weidenblättern mit Bitterkraut, Kornblumen und Klatschmohn. Eine der Mohnblüten hatte man ihr als Knospe in den Sarkophag gelegt, wo sie lange friedlich ruhte.
Jahrtausende wurde der Sarkophag geöffnet, und Sauerstoff strömte hinein. Nes Chonsu schlief weiter, doch die Mohnknospe öffnete sich, erst zaghaft, blühte auf, ganz kurz, errötete ein wenig und ging dann zu ihrer Herrin in die Ewigkeit ein.
Und nun frage ich mich, wo wohl meine kleine Mohnblume so lange war, bevor sie mir die Ehre erwies, sich als ständiger Gast auf meinem Balkon niederzulassen.

Der Botaniker und Afrikaforscher Georg Schweinfurth, Privatgelehrter aus Riga, sammelte die altägyptischen floralen Grabbeigaben, für die die Archäologen sich nicht interessierten. Seine Sammlung wird im Berliner Botanischen Garten verwahrt. Er erzählte die Geschichte von Nes Chonsu und ihrer Mohnknospe.

Susanne Weiss ist Autorin und Wissenschaftsjournalistin. Darüber hinaus führen ihre Buchempfehlungen die geneigten Leserinnen und Leser hoch unterhaltsam in die geheimnisvollsten Ecken und Wissensgebiete der Welt. Im Verlag Akademie der Abenteuer erscheinen in den kommenden Monaten die Auftaktbände ihrer beiden neuen Krimireihen.

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