Gomaringen

von Boris Pfeiffer

Als ich in die Gomaringen einfahre und gleich darauf vor der Bibliothek im Schlosshof parke, gehen mir die Augen über. Direkt gegenüber ist eine Mosterei. Äpfel, Äpfel, Äpfel, rote, grüne, gelbe – in riesigen Kisten, in rauen Mengen und darüber der süßsaure Duft nach frischgepresstem Apfelsaft. Ich verschiebe die Lust auf nach der Lesung und begebe mich in die Schule. Die Lesung ist fein, alle vierten Klassen sind da, alle Lehrerinnen, die Bibliothekarin, Herbstlicht vor den Fenstern mit Blick auf die Alb und so viele Fragen und so ein duftes Gespräch miteinander wie Äpfel in der Mosterei. Anschließend wandere ich einmal um die Stadt, vorbei am Friedhof, vorbei an einer Streuobstwiese, vorbei an drei Elefanten, die auf einer Wiese das Gras rupfen. Der Circus ist in der Stadt, aber ich darf nicht hinein, weil die Vorstellung exklusiv für den Bürgermeister und Gäste ist. Ich schlucke den Schmerz, nach so langer Zeit nicht in die Manege eintreten zu dürfen, keine Artisten zu sehen, tapfer hinunter. Ich gehe am Fußballplatz entlang und sehe einen kleinen Jungen, der den Ball aus 13 Metern rechts oben in den Winkel schießt. Was für ein schöner Schuss. Ich komme an einem Hühnergehege vorbei und an Schafen. Ich komme beim Grabsteinverkäufer vorbei. Zwischen den rohen Steinen steht ein goldbrauner Berliner Bär, denke ich jedenfalls. Dahinter erhebt sich eine Bärenfamilie aus grauem Granit. Zwischen zwei Tannen steht eine Madonna mit sanftem Blick (und ich frage mich jetzt noch, wie es zu dem Minigrabstein daneben zu ihren und zu Füßen einer goldbronzenen Christusfigur kommt, auf der Shrek in den Stein gemeißelt ist.) Ich überquere die unheimlich befahrene Straße, auf der sich der Abendverkehr viel zu dicht durch die Landschaft quält. Ich lande wieder im Stadtkern. Auf einer steilen Straße werfen sich zwei Jungen einen Handball zu. Fangen und werfen. Der Größere will wissen, warum der Kleinere den Ball immer vor dem Wurf in der Hand rotieren lässt. Ich ahne, dass er den Ball bald mit so viel Effet werfen wird, dass der Größere ins Nachsehen gerät. Ich komme an einem Geschäft vorbei, das bei meiner mittäglichen Ankunft geschlossen hatte. Auf einer Tafel steht: Holzofenbrot. Davon hat die Frau aus dem Präsidialamt geschwärmt, sie komme an keinem Geschäft vorbei, wo es das gäbe. Ich trete ein. Ich nehme eine Flasche Rotwein. Ich trete an den Verkaufstresen. Ich frage nach hiesigem Käse. „Das wird schwer“, sagt mir die Frau hinter dem Tresen. „Oder haben Sie hier Kühe auf den Weiden gesehen?“ Ich erkläre, nur Hühner und Schafe getroffen zu haben. Nach Elefantenkäse zu fragen, verkneife ich mir. Ich frage nach Schafskäse. Sie nickt. „Der kommt morgen früh.“ „Da bin ich weg“, bedauere ich und nehme zwei Stück Bergkäse, den sie mir empfiehlt. Wir gehen vom Käse zum Brot. Ich nehme Holzofenbrot. Sie will wissen, ob ich auf der Durchreise wäre. Ich erzähle ihr von der Lesetour. „Ach, Sie sind das!“, ruft sie. „Mein Sohn liest nichts anderes als ihre Bücher. Er wäre so gerne gekommen, aber wegen Corona durften nur die vierten Klassen.“ Ich stelle meinen Korb mit dem Wein ab und sage ihr, ich würde ein Buch aus dem Auto holen für ihren Sohn, das könne sie ihm von mir schenken. „Dann tauschen wir“, erklärt sie stante pede. „Käse und Brot gegen das Buch.“ Ich sage ihr, das wäre für sie ein finanziell eher schlechter Tausch. „Das macht nichts“, sagt sie. „So soll es sein.“ Ich hole das Buch, ein Plakat, Autogrammkarten. Kurz darauf sitzen wir an einem Tisch im Laden und ich schreibe Grüße an ihren Sohn, der lange nicht gut schreiben konnte, aber seit er angefangen hat unermüdlich zu lesen, gute Noten von seinen Lehrerinnen bekommt. Ich erzähle ihr von meinen neuen Büchern. „Das war cool“, sagt sie schließlich. An der Eingangstür steht eine Papiertüte für mich. „Den Wein möchte ich bezahlen“, sage ich. „Das geht nicht“, lässt sie mich wissen, „die Kasse ist schon zu.“ Dann lacht sie. „Dafür hat man einen Laden.“
Ich gehe zum Hotel. Als ich einchecke und meinen Namen nenne, strahlt mich die Rezeptionistin an. „Da sind Sie ja!“ Sie zieht eine Schublade neben sich auf. „Ich weiß gar nicht, ob Sie mir das verübeln …“ In der Schublade liegt ein Buch von mir. „Mein Sohn, er war so begeistert von ihren Lesung vor drei Tagen. Würden Sie ihm das signieren?“ Ich versichere ihr, mich glücklich zu schätzen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Sie gibt mir das Buch, ich widme es ihrem Sohn. Dann reden wir länger über Corona. Sie hat es gehabt. Sie erzählt mir, wie sie es bemerkt hat und wie glücklich sie war, als ihre Kinder es nicht bekamen. Und wie sie wundervoll bemerkt hat, es nicht mehr zu haben. Denn als sie es bekam, war sie von einer Minuten auf die andere depressiv und starrte nur noch traurig auf den Bildschirm an ihrem Arbeitsplatz. Und als es vorbei war, lachte sie wieder, ihrem Wesen gemäß.
Ich bin dankbar für diesen Tag. Ich denke an die Menschen und dann an die Elefanten.  

Boris Pfeiffer ist einer der meistgelesenen Kinderbuchautoren Deutschlands und Gründer des Verlags Akademie der Abenteuer. Zuletzt erschien dort zusammen mit der in Australien lebenden Malerin Michèle Meister der Gedicht- und Bildband für Erwachsene Lockdown – ein C-Movie. Ende September 2021 erschien bei Harper & Collins der erste Band seiner neuen Kinderbuchreihe SURVIVORS.

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