von Boris Pfeiffer
Der Wirt sitzt alleine an einem Tisch und freut sich. Der Stammgast und der verlorene Sohn sind zusammen aufgetaucht. Der Stammgast ist ein Berliner Chinese, der immer griechisches Bier trinkt, außer, wenn er mit dem verlorenen Sohn kommt, dann trinkt er Wein. Dass er immer Bier trinkt, weiß auch die junge griechische Bedienung, die vor der Krise aus Griechenland geflüchtet ist und seitdem mit ihren schwarzen Locken die Gäste, Stammgäste und andere, verrückt macht. Sie wiederum mag den Berliner Chinesen, der sich aber nicht verrückt machen lässt, sondern lieber Bier trinkt und proteinreich isst. Fassungslos sieht sie ihn an, als er gleich einen Liter Wein bestellt. „Ja, ja“, sagt ihr der Berliner Chinese, „mit meinem Freund, dem verlorenen Sohn des Wirtes, den ich ihm heute nach langer Abwesenheit wieder nachhause gebracht habe, trinke ich immer Wein, roten Wein. Und wir schnabulieren auch etwas.“
Das werden sie dann auch gleich tun. Fleisch und Tsatsiki und kein Brot, dafür der eine Zwiebeln und der andere Salat. Während sie essen und reden, guckt der Wirt ihnen zu. Als es ihm soweit zu sein scheint ruft er: „Wollt ihr einen Ouzo?“
„Nein“, sagt der verlorene Sohn.
„Ja“, sagt der Berliner Chinese.
„Dann einen!“, ruft der Wirt der Schwarzlockigen zu.
„Nein“, ruft der Berliner Chinese. „Alleine trinke ich nicht!“
„Du Mädchen!“, ruft der Wirt.
Die Schwarzlockige denkt sich zu diesem Chauvisatz ihren Teil.
Der Berliner Chinese antwortet: „Ich trinke nicht alleine! Nur, wenn du auch einen trinkst.“
„Du weißt, dass ich keinen Ouzo mehr trinke“, antwortet ihm der Wirt. „Ich habe Angst. Als ich den Krebs besiegt habe, haben mir die Ärzte gesagt, ich sei auch noch Alkoholiker. Ich habe Angst, wenn ich ein Glas trinke, trinke ich den Rest der Flasche auch noch. Und das will ich nicht. Ich trinke nur noch Wein. Also, nimmst du einen Ouzo?“
„Nein“, wiederholt der Berliner Chinese.
„Mädchen!“, ruft der Wirt.
„Einen“, sagt der Berliner Chinese.
„Einen Ouzo!“, ruft der Wirt der Bedienung zu. Die Schwarzlockige schenkt ein. Der verlorene Sohn sieht ihr zu. Ihre schwarzen Locken glänzen über dem Tresen.
„Ach!“, ruft der verlorene Sohn, „lieber zwei Mädchen als ein Mädchen, ich trinke auch einen Ouzo!“
„Na, also!“, ruft der Wirt und die Schwarzlockige schenkt ein zweites Glas ein. Sie bringt die Gläser an den Tisch und lächelt dem Berliner Chinesen zu. Heute hat sie zum ersten Mal Furcht, dass er schwul sein könnte, so vertieft ist er im Gespräch mit dem verlorenen Sohn. Sie hat gleich Feierabend und muss gehen. Sie verabschiedet sich von ihm. Sie glüht für ihn, aber er merkt es heute einfach nicht.
„Ihr Mädchen!“, ruft der Wirt.
Der verlorene Sohn und der Berliner Chinese prosten ihm zu und trinken auf ihn.
„Ihr deutschen Mädchen!“, ruft der Wirt.
Der Berliner Chinese lacht: „Du geiler Zypriot!“ Er freut sich: „Ich darf das sagen, ich bin kein Deutscher, ich darf jeden nennen, was er ist, ohne ein Rassist zu sein.“
Der verlorene Sohn fragt sich, ob das wirklich stimmt, aber es ist ihm egal. Er ist jetzt ein Mädchen, das seinen Ouzo trinkt und der schmeckt prima. Er sieht den Wirt an. Er liebt ihn, er liebt es, dass er den Krebs überwunden hat, weil er, wie er ihm einmal gesagt hat, immer daran geglaubt hat.
„Sag es jedem, der es hören muss“, hat er ihn wissen lassen. „Du musst daran glauben, den Krebs zu besiegen. Das ist Kopfsache. Das ist Herzsache. Das ist an sich Glaubenssache! Du ahnst nicht, wie oft ich aus dem Rollstuhl gefallen bin, so schwach war ich. Aber eines Tages bin ich aufgestanden und gelaufen.“
Die Schwarzlockige ist gegangen. Der Berliner Chinese, der Wirt und der verlorene Sohn sprechen weiter.
Boris Pfeiffer ist einer der meistgelesenen Kinderbuchautoren Deutschlands (er schreibt z.B. die Drei ??? Kids) und Gründer des Verlags Akademie der Abenteuer. Zuletzt erschien dort zusammen mit der in Australien lebenden Malerin Michèle Meister der Gedicht- und Bildband für Erwachsene Lockdown – ein C-Movie. Ende September 2021 erschien bei Harper & Collins der erste Band seiner neuen Kinderbuchreihe SURVIVORS.
Wunderbar – ich hab alles gesehen 💫